Markus

Der Brief

15. Juni 2025

Die Sonne strahlte hell über die langsam verfallenden Häuser der Stadt. Ich wurde vom aufgeregten Treiben meiner Mutter geweckt, die gerade in mein von Blättern überflutetes Zimmer gestürmt war.

«Wach doch auf! Die Familie kommt in ein paar Stunden und ich hab’ noch so viel zu tun», sagte sie. Natürlich, dieser Tag war der erste Mai und wie jedes Jahr musste jede Familie ein pompöses Fest organisieren. Also zog ich mich schnell um. Als ich in die Küche eilen wollte, sah ich den Brief in meinem Zimmer, den ich vor einigen Tagen erhalten habe. Auf ihm das Siegel der Universität mit den Bestätigungsdokumenten. Nur noch ein Tag vor dem Terminschluss. Heute musste ich mich entscheiden. Besorgt starrte ich auf den Brief, bis meine Mutter mich mit ihren Rufen unterbrach. Als ich in die Küche kam, sah ich ein ganzes Bankett an Essen. Eingelegtes Gemüse, Fleisch, Brot, verschiedene Nebenspeisen. Meine Mutter bat mich, die Fleischmasse zu vermischen. Beim Kneten ging mir allerdings dieser Brief nicht aus dem Kopf. Ich musste mich bald entscheiden. Verlasse ich mein Land, meine Freunde, meine Familie und gehe? Verlasse ich den Ort, wo ich doch so schöne Erinnerungen habe?

Um 14.00 Uhr kamen unsere Verwandten zu Besuch. Wir grüssten uns freundlich und der Nachmittag verging fröhlich. Wir grillten, tranken und unterhielten uns.

«Weisst du, meine Operation für mein Knie habe ich erst in zwei Jahren»,

erzählte mir mein Grossvater und fügte hinzu: «Wenn du gehst, könnten wir ja zu dir kommen, nicht wahr? Oder bleibst du hier?»

Mit einem Gelächter und einer kleinen Lüge sagte ich, dass ich noch auf die Bestätigung wartete. Gegen Abend ging ich mit meinen Geschwistern und meinen Cousins durch die Stadt. Ich sah mich um. Alte, zerfallende Häuser, Strassen mit riesigen Löchern und verrostete Strassenschilder. Wir liefen zu dem Fussballplatz mit zerrissenen Netzen, spielten und unterhielten uns. Doch innerlich zerfetzte es mich.

Nach einem langen Spaziergang, es war schon dunkel, machten wir uns auf den Rückweg. Wir liefen um das Krankenhaus. «Fachkräfte dringend gebraucht» und: «Ärzte und andere medizinische Fachkräfte gesucht» stand auf einem Plakat neben dem Eingang. In meinem Herz begann es zu schmerzen. Ich wurde von Schuldgefühlen überwältigt und stand vor den Plakaten mit besorgtem Blick. Ich hörte, wie die anderen mich aufforderten, mich zu beeilen, also schaute ich das letzte Mal auf die Anzeige und ging zu ihnen. Als wir zurück in unser Haus kamen, sahen wir unsere Eltern tanzen. Die Stimmung war wundervoll. Ich stand einen Moment still und schaute mich um. Mein Vater lachte, meine Mutter tanzte in seinen Armen, meine Geschwister spielten. Es fühlte sich so vertraut, so einladend an.

Später ging ich in mein Zimmer zurück und nahm das Couvert in die Hand. Ich setzte mich ans Fenster und schaute auf das von Mondlicht beleuchtete Feld.

Am nächsten Morgen – der letzte Tag der Frist – ging ich zu der Post. Ich atmete tief ein, schaute mich noch einmal um und warf den Brief mit einem Lächeln im Gesicht rein. Beim gemeinsamen Abendessen fragte mich meine Mutter:

«Und wofür hast du dich entschieden?»

Ich lächelte und sagte: «Ich gehe. Aber ich komme zurück. Versprochen.»

Ihre Augen wurden feucht und mit einem eindrucksvollen Blick sagte sie zu mir: «Dann mach uns stolz.»

Und das war der Anfang von allem.